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GENMEDIZIN: Erbgut an nur einem Tag aufgezeichnet

Erbgut Künstliche Intelligenz

In der Untersuchung von pathologischen Genen ist ein immenser Durchbruch gelungen: Die Entzifferung des Genoms kann durch künstliche Intelligenz künftig drastisch beschleunigt werden.

Wissenschaftler bezeichnen ihre Fortschritte in der Genomforschung des vergangenen Jahrzehnts als bahnbrechend. Das wissenschaftliche Feld wurde vor allem durch das Next-Generation-Sequencing in neue Ebenen katapultiert. Hierbei handelt es sich um ein Hochdurchsatzverfahren, das zur Entschlüsselung von Erbmaterial in der DNA dient. Die vollumfängliche Sequenzierung des ersten menschlichen Genoms verschlang noch vor knapp zwanzig Jahren drei Milliarden Euro und erstreckte sich über einen Zeitraum von 13 Jahren. Heute dauert dieser Prozess nur noch Tage und kann zu einem Bruchteil der vorherigen Kosten durchgeführt werden. Stephen Kingsmore und sein Forscherteam des Rady Children’s Institute for Genomic Medicine in San Diego erhöhen nun die Schlagzahl. Innerhalb 24 Stunden entschlüsselten sie vollends das Erbgut ihrer jungen und schwerstkranken Patienten. Das Next-Generation-Sequencing, kombiniert mit künstlicher Intelligenz, machte den Durchbruch möglich und erlaubte es den Forschern gleichzeitig, eine Diagnose zu stellen. Zum Vergleich: In Deutschland dauert es unter Zeitdruck durchschnittlich zehn Tage, bis eine Diagnose erstellt werden kann.

Der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik, Olaf Rieß, äußerte sich über die in der „Science Translation Medicine“ veröffentlichte Arbeit mit den Worten: „Das ist ein riesiger Meilenstein.“ Hauptsächlich die Analyse sowie die Interpretation der Sequenzdaten zählten angesichts der drei Milliarden Basenpaare, aus der das menschliche Erbgut besteht, zu den bislang größten Herausforderungen unserer Zeit. Die Humangenetiker müssen aus dieser kolossalen Datenmenge die pathogenen DNA-Varianten herausfiltern und auslesen. Hierzu werden die sequenzierten DNA-Abschnitte mit der korrelierenden Sequenz eines gesunden Referenzgenoms verglichen, um Veränderungen zu erkennen. Dabei kann es sich um verschwundene, vertauschte oder eingefügte DNA-Stücke handeln. Rieß weiter: „Wir finden häufig genetische Varianten, die noch nie in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben wurden. Wir müssen daraufhin herausfinden, ob eine, beziehungsweise welche, dieser Varianten für die Erkrankung verantwortlich ist – und das dauert dann.“

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Genomanalysen erleichtern die Diagnosen erheblich

Stephen Kingsmore und sein Forscherteam konnten diesen Schritt automatisieren und beträchtlich beschleunigen. Um aus der elektronischen Patientenakte die relevanten medizinischen Befunde herauszufiltern, hilft ein Texterkennungsprogramm. Die Sequenzdaten werden mithilfe des Programms „Moon“ abgeglichen. Dieses Programm benötigt durchschnittlich fünf Minuten, um aus 4,5 Millionen verschiedener Varianten eine infrage kommende pathogene DNA-Variante zu empfehlen. Rieß äußerte sich hierzu wie folgt: „Die Daten werden automatisch eingelesen, abgeglichen und priorisiert – das ist wirklich toll.“ Die künstliche Intelligenz ist der menschlichen beinahe ebenbürtig: Das automatische Verfahren generierte bei annähernd hundert Kindern, die durch das herkömmliche Verfahren mit 97 genetischen Defekten diagnostiziert wurden, lediglich drei falsch-negative Resultate.

Darüber hinaus wurde das automatische Verfahren gegen Humangenetiker in Echtzeit getestet: Drei von sieben Patienten konnten damit schneller und erfolgreicher diagnostiziert werden als durch die Genetiker. Bei den vier verbleibenden Patienten waren beide Herangehensweisen ein Misserfolg.

Genomanalysen zu Diagnosezwecken waren noch vor zehn Jahren nahezu utopisch. In Teilbereichen der Medizin haben sie sich heute beinahe in eine Routinediagnostik gewandelt. Vor allem Patienten mit seltenen Erkrankungen ziehen großen Nutzen aus Genomanalysen. Desgleichen sind sie zur Therapiesteuerung von Krebserkrankungen nicht mehr wegzudenken. Bei nahezu der Hälfte aller Fälle verhilft sie zu einer Diagnose.

Die Methode verspricht zumindest den Fachkräftemangel in den USA zu kompensieren, so schreiben Stephen Kingsmore und sein Forscherteam. Aufgrund des rasend schnellen Fortschritts in unserer heutigen Zeit ist bereits ein Rückgang von Fachkräften festzustellen. Bei ungelösten Fällen könnten in gewissen Abständen durch ein automatisiertes Verfahren die Genomdaten re-analysiert und abgeglichen werden. Es werden jährlich Hunderte pathogener DNA-Varianten neu beleuchtet.

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Das automatisierte Verfahren wird Ärzte jedoch vorerst nicht ersetzen. Stephen Kingsmore äußert sich hierzu wie folgt: „106 Jahre nach der Erfindung des Autopiloten sitzen noch immer zwei Piloten in dem Cockpit eines Passagierflugzeuges. Ebenso wird es immer ein gut geschultes Team brauchen, um schwierige Entscheidungen zu treffen.“

England als Pionier in der Genom-Medizin

Da die Erstattung durch die Krankenkassen in den USA bis dato nicht sichergestellt ist, wird eine großräumige Einführung der Genomanalyse an diesem Faktor scheitern. Dies ist kein Einzelfall. Der rasante Fortschritt in der Medizin eilt in vielen Ländern den gesetzlichen Vorschriften und Kostenabrechnungssystemen weit voraus. Der weltweit führende Pionier auf diesem Gebiet ist Großbritannien. Das nationale Gesundheitssystem hat unlängst, nach Abschluss seines hunderttausendsten Genome-Projekts, die Gesamtgenomsequenzierung als weltweit erstes und einziges Land in eine genetische Routinediagnostik etabliert.

Schwerkranke Patienten in Deutschland besitzen indes nur eingeschränkten Zugang zur Genom-Medizin. „Sind bestimmte Voraussetzungen erfüllt, übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen in durchschnittlich zehn Prozent, private Krankenkassen hingegen in 40 bis 50 Prozent der Fälle, eine Genom-Sequenzierung“, so äußerte sich Rieß. Darunter wird die Untersuchung aller, auf dem Genom codierten, schätzungsweise 20.000 bekannten Gene verstanden. Einzelne Universitäten haben mit verschiedenen Krankenkassen unmittelbare Verträge geschlossen. Für ausgewählte Patienten ist somit eine umfangreiche Sequenzierung möglich. Im internationalen Vergleich jedoch hinkt Deutschland den Entwicklungen weit hinterher.

Rieß kritisiert indes das Bundesministerium für Bildung und Forschung aufgrund seiner fehlenden Investitionen. Zwar investierte die Deutsche Forschungsgesellschaft deutschlandweit in die technische Einrichtung von vier Genomzentren 14 Millionen Euro sowie weitere 30 Millionen Euro über einen Zeitraum von drei Jahren für Einzelprojekte, doch sei dies nicht ausreichend, so Rieß: „Das ist ein wirklich anerkennenswerter Schritt“, sagte er. „Doch die Förderung beinhaltet Mikrobiome, Umweltgenome, Pflanzen, Patienten sowie neue Tiergenome und dergleichen.“ Im Gegensatz dazu verfügt allein das Rady Children’s Institute for Genomic Medicine in San Diego für seine Genomforschung über wenigstens 160 Millionen Euro. „Das sind völlig andere Dimensionen“, so Rieß. Er kann die Zurückhaltung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung nicht nachvollziehen. Seine abschließenden Worte: „Die Genomforschung wird schließlich die Medizin in der Zukunft bestimmen.“

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